„Wir sind in einer neuen Normalität“

Prof. Dr. Karl-Heinz Leven spricht über Corona und  vergangene Seuchen

Pandemien sind ein Begleiter der Menschheit und verbreiten seit tausenden Jahren Angst und Schrecken. Was wir von den Seuchen der Vergangenheit über den Umgang mit Corona lernen können, darüber spricht FAU-Präsident Prof. Dr. Joachim Hornegger mit Prof. Dr. Karl-Heinz Leven, der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) den Lehrstuhl für Geschichte der Medizin leitet.

Eine historische Betrachtung hat stets den Charakter eines Vergleichs. Medizinhistorikerinnen und -historiker richten folglich ihren Blick in die Vergangenheit und suchen nach Ereignissen, die sich mit Corona vergleichen lassen: „Wir finden eine Vielzahl von Seuchen, auch pandemische Geschehnisse, in der Geschichte und können schauen, was ist heute anders – denn es gibt große Unterschiede –, aber was ist auch gleichgeblieben. Es gibt nämlich sehr viele Phänomene, die in den Seuchen immer wiederkehren“, erklärt Prof. Leven.

Wie wirkt sich die Pandemie zum Beispiel auf die Gesellschaft aus? „Meistens ist eine Seuche ein Phänomen, das von außen kommt, beziehungsweise wird sie oft so verstanden“, sagt Leven. Hierbei sei es von Bedeutung, wie die jeweilige Gesellschaft dieses Phänomen interpretiert: „Wir haben ein naturwissenschaftliches Erklärungsmuster, für uns ist die Seuche ein virologisches Geschehen. Den Erreger kennen wir, wir haben ihn identifiziert und genetisch analysiert.“ In der Vergangenheit hingegen habe es andere medizinische Konzepte gegeben, die Menschen hätten andere Ursachen für Seuchen gesehen. Gleichwohl ähnelten sich die Reaktionsweisen: „Für die Gesellschaft ist es im täglichen Leben nicht so wichtig, ob man weiß, dass ein Virus XY der Auslöser ist oder dass man denkt, es ist ein Gift, was an irgendwelchen Sachen haftet – das war nämlich eine Erklärungsweise für Pestepidemien im Mittelalter“, führt Prof. Leven aus.

In dem Gespräch geht der Historiker zudem auf die Herausforderung ein, welcher sich die Medizin stellen muss: „Oft ist es so gewesen, dass Pandemien die Medizin in einem Stadium erwischen, in dem sie auf diese Bedrohung nicht adäquat reagieren kann.“ Die Ausbreitung des Corona-Virus könne nicht gestoppt, sondern lediglich durch Maßnahmen wie die Kontaktsperre oder die Abstandsregelung, die so schon in der Frühen Neuzeit zum Einsatz kamen, eingedämmt werden. Man greife also auf Reaktionsformen zurück, die sich in der Geschichte bewährt hätten – „Europa hat in der Geschichte aus der Auseinandersetzung mit der Pest gelernt“. Gegenwärtig sei die Entwicklung eines Impfstoffes kompliziert und erfordere Geduld. Das Virus könne dementsprechend nicht kurzfristig eliminiert werden und die Menschheit zu einer alten Normalität zurückkehren. „Wir sind schon jetzt in einer neuen Normalität und daran müssen wir uns gewöhnen“, erklärt Leven.

Auch die vermehrt aufkommenden Verschwörungstheorien werden in dem Gespräch aufgegriffen. Pandemien riefen Angst und Unsicherheit hervor, die Bedrohung solle begreiflich gemacht werden. „Viele dieser Verschwörungstheorien füllen eine Lücke aus“, erklärt er. Wenn die Menschen nicht mehr in der Religion nach Erklärungen suchten, würden sie sich solchen Theorien zuwenden, um einen Sinn zu stiften und die Frage nach der Schuld zu beantworten.

Im Gespräch geht es zudem um die Rolle der Politik in der Pandemie: „Die Pest ist die Stunde der Exekutive“ – die Strategien, die zur Eindämmung der Seuche dienen, stärken die die Exekutive. Dieses Vorgehen sei zwar erfolgreich, beruhe allerdings auch auf der Anwendung von Zwangsmitteln und der Aussetzung von Grundrechten. „Darüber muss man kritisch nachdenken“ ergänzt er. Dieses Phänomen sei in der gesamten Seuchengeschichte zu beobachten.

Zuletzt gibt Professor Leven einen Ausblick, was über Corona in den kommenden Geschichtsbüchern stehen könnte: „Wir sind jetzt im Augenblick in einem ganz bestimmten Paradigma und das ist eine gewisse Zeitenwende. Und deshalb wird man wahrscheinlich von einer Zeit vor Corona und von einer Zeit nach Corona sprechen. Aber wir sind in der Gegenwart noch in der Zeit mit Corona und das wird noch eine Zeit lang so bleiben.“

 

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Karl-Heinz Leven

Lehrstuhl für Geschichte der Medizin

Tel.: 09131/85-22094

karl-heinz.leven@fau.de

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